Erfahrungen mit dem M.A.S. Schaft aus HANDICAP 4/2004

Informationen und Erfahrungsberichte über den M.A.S.-Schaft (Marlo Anatomical Socket Design), aber auch über andere alte und neue Schjaftformen (z.B. Milwaukee-Schaft, PBSS-Schaft)
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charley
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Erfahrungen mit dem M.A.S. Schaft aus HANDICAP 4/2004

Beitrag von charley » Do Aug 25, 2005 17:09

Gefunden im ot-forum.de:
M.A.S.-Schaft II 2004-12-15 22:07:21
Autor: Gunther Belitz, Magazin HANDICAP E-Mail: redaktion (at) handicap punkt de
Dieser Artikel ist eine Vorabveröffentlichung aus dem Magazin HANDICAP, Ausgabe 4-2004, Erscheinungsdatum: 20.12.04. Kopernikanische Wende Erfahrungen mit dem M.A.S. Schaft nach Marlo Ortiz Von Gunther Belitz Von einem neuen Schaftprinzip für Oberschenkelamputierte aus Mexiko hatte ich schon vor längerer Zeit mit Spannung gehört. Als mir Ferdinand Gottinger im Frühjahr anbot, einen solchen Schaft für Testzwecke zu bauen, nahm ich deshalb gerne an. Zudem liegt die Münchner Orthopädiewerkstatt von Gottinger nur ein paar Schritte von meiner Wohnung entfernt, und das ist wichtig, denn bis ein neuer „Maßschuh“ perfekt passt, muss man mit vielen Anproben und Änderungen rechnen. Ferdinand Gottinger hat sich als einer der ersten deutschen Orthopädie-Techniker intensiv mit der Philosophie des M.A.S. (Marlo Anatomical Socket) Schaftes beschäftigt und dazu auch den Erfinder Marlo Ortiz in Mexiko besucht (siehe Bericht in HANDICAP 1/2004). Während Gottinger jedoch eine spezielle Messmethode verwendet, um den Schaft am Computer zu modellieren, wird bei Ortiz selbst noch gegipst. Stark verbessertes Gangbild Seit September trage ich den M.A.S. Schaft tagtäglich und bin vollauf begeistert. Mein Gangbild hat sich ohne weiteres Zutun dramatisch verbessert, ich kann wesentlich schneller und kraftsparender gehen, die Prothese lässt sich deutlich leichter und exakt unter dem Körper führen, der Schaft kippt nicht mehr seitlich ab und ist vollkommen rotationsstabil, und selbst nach langen Gehstrecken entstehen keine unangenehmen Druckbelastungen. Bisher war ich mit einem längsovalen Schaft mit Weichwand-Innencontainer und Silikonliner mit Pin versorgt, und zwar nicht schlecht. Vom klassischen Konstruktionsprinzip des CAT-CAM-Schaftes wurde dabei allerdings auf Kosten der Stabilität etwas abgewichen, weil es bei mir immer zu Friktionen zwischen Pobacke und Schaftrand kam. Mit einem ähnlichen Problem sah ich mich nun bei den ersten Anproben des neuen Schaftes konfrontiert und war zunächst skeptisch, ob es funktionieren würde. Hervorstechendstes Merkmal des M.A.S. Schaftes ist nämlich ein flügelförmiges „Öhrchen“ an der Innenseite, das zu unangenehmer Reibung und Druckbelastung führen kann, wenn es nicht millimetergenau an der richtigen Stelle platziert wird. Bis wir das in den Griff bekommen haben, dauerte es eine ganze Weile, und es mussten zwischenzeitlich zwei neue Probeschäfte angefertigt werden. So wenig Schaft wie möglich, so viel wie nötig! Exakt an die individuelle anatomische Situation angepasst ist dieses Öhrchen sozusagen der archimedische Punkt des gesamten Systems, denn es dient der medialen Ramusanstützung und sorgt zusammen mit der muskulären Abstützung auf der Außenseite des Schaftes für einen nahezu unverrückbar stabilen Sitz des Stumpfes im Schaft. Der Ramus ossis ischii (Schambeinast) ist ein Knochen, der vom Tuber ischiadicum (Sitzbeinhöcker) zum Schambein verläuft. Im Vergleich zum längsovalen CAT-CAM-Schaft, bei dem der Tuber angestützt und umfasst wird, verschiebt sich die Anlage beim M.A.S. Schaft also mehr von hinten nach vorne innen. Damit wird der Weg frei, den hinteren Schaftrand so tief auszuschneiden, dass sich der Gluteus maximus (der große Pomuskel) komplett außerhalb des Schaftes befindet. Weil auch der vordere Schaftrand beim M.A.S. Schaft in der Höhe kräftig abgespeckt wird, tritt der ohrenförmige Flügel überhaupt so deutlich hervor. Wenn man es auf einen kurzen Nenner bringen will, lautet das Konstruktionsprinzip: so wenig Schaft wie möglich, so viel wie nötig! Vor diesem Hintergrund versteht es sich fast von selbst, dass die Minimierung der Stumpfaufnahme mit einer umso genaueren Passform einhergehen muss. Enorme Bewegungsfreiheit Welche Vorteile bietet das alles nun für den Anwender? Fest steht, dass sich die Bewegungsfreiheit mit dem M.A.S. Schaft enorm verbessert, auch wenn die artistischen Verrenkungen, mit denen Marlo Ortiz seine Probanden gerne werbewirksam posieren lässt, für den Alltag nicht ganz so wichtig sind. Relevanter ist zum Beispiel, dass das Zubinden der Schnürsenkel auch bei angezogener Prothese zum Kinderspiel wird. Schiefes und unbequemes Sitzen, einerlei ob im Büro, bei langen Autofahrten oder auf dem Barhocker, ist endlich passé, weil die Pobacke volle Tuchfühlung hat und der Schaftrand nicht mehr drückt. Für mich ist auch entscheidend, dass der Schaft beim Fahrrad fahren nicht mehr mit dem Sattel ins Gehege kommt. Sogar auf einen Liner, den ich zuvor vor allem beim Radeln als Fixationselement benötigte, kann ich nun verzichten, weil sich der M.A.S. Schaft selbst bei langen und schweißtreibenden Fahrradtouren nicht lockert. Ich trage ihn also wie einen konventionellen Saugschaft mit Ventil. Als Material für den Innenschaft kommt momentan hochtemperaturvernetztes Silikon (HTV) zum Einsatz; eine Linerversorgung ist aber ebenso möglich, wie sich wohl prinzipiell auch ein M.A.S. Schaft aus Holz fertigen ließe. Die für Marlo Ortiz besonders wichtigen kosmetischen Aspekte – der Schaft soll sich unter enger Kleidung weniger abzeichnen –, habe ich bislang leider noch nicht würdigen (lassen) können. Was es mit dem Hypomochlion auf sich hat Extrem wichtig ist beim M.A.S. Schaft der Prothesenaufbau in leichter Flexionsstellung (Beugung) und Adduktionsstellung, das heißt, der Stumpf wird mehr an die Körperachse herangeführt. Unterstützt wird dieser Aufbaueffekt von einem kleinen, aber wichtigen Detail an der Ramusanstützung. Direkt unter dem Öhrchen ist nämlich eine schmale Rinne in den Schaft einmodelliert, in der die Adduktorensehne verläuft. Bei Belastung wird der Schaft von den so vorgespannten Adduktorenmuskeln gleichsam automatisch nach innen an den Körper herangezogen. Dies geschieht nach dem Funktionsprinzip des Hypomochlions, womit ein Dreh- oder Unterstützungspunkt bezeichnet wird, der dazu dient, Hebelkräfte am Körper mit geringem Aufwand effizient zu übertragen. An anderer Stelle fungiert etwa die Kniescheibe als Hypomochlion für die Sehne des Quadrizepsmuskels. In Verbindung mit einem korrekten Prothesenaufbau ist es so mit dem M.A.S. Schaft möglich, bei voller Belastung der Prothese völlig zwanglos mit beiden Füßen ganz eng beieinander zu stehen, und dies sogar ohne einen unangenehmen Druck am recht empfindlichen Schambeinast zu verspüren. Im Gangbild macht sich das durch eine sehr enge Schrittführung und das Ausbleiben des bei Oberschenkelamputierten sonst häufig üblichen „Seemannsgangs“ bemerkbar. Der Schaft ist das wichtigste Element einer Prothesenversorgung Es wäre sicher vermessen, den M.A.S. Schaft als orthopädie-technische Revolution zu bezeichnen. Aber er könnte eine kopernikanische Wende – eine Revolution in der Denkungsart – einleiten und in Deutschland zu einer stärkeren Rückbesinnung auf die eigentlichen Wurzeln des Handwerks führen. Denn der Schaft ist als Bindeglied zwischen Mensch und Maschine das wichtigste Element einer Prothesenversorgung. Nicht nur für mich entscheidet vor allem die Passform des Schaftes über die individuelle Lebensqualität mit Beinprothese und die Möglichkeit einer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Und es ist leider kein Zufall, dass die großen Innovationen in der Schafttechnik der letzten 20 Jahre – von CAT-CAM über Linertechnologien bis zum M.A.S Schaft – allesamt nicht in Deutschland ihren Ursprung hatten. Letzten Endes werden Orthopädie-Techniker nur dann gute Schäfte bauen können, wenn sie sich (wieder) mit Hingabe einer großen handwerklichen – und manchmal auch menschlichen – Herausforderung stellen. Folgeschäden kosten mehr als jeder optimal angepasste Schaft Selbstverständlich müssen das auch die Kostenträger nachvollziehen und der Herstellung eines Prothesenschaftes den Wert zumessen, der ihr gebührt. Handfeste medizinische Argumente können dabei Türen öffnen und sollten auch wissenschaftlich verstärkt ins Feld geführt werden. Beim M.A.S. Schaft ist jedenfalls offensichtlich, dass das Becken nicht so sehr nach vorne kippt, weil die Anstützung über den Ramus und nicht wie bei den meisten quer- und längovalen Schäften über den Tuber bzw. die Gluteusmuskulatur erfolgt. Durch die anatomisch korrektere Stellung fällt man deshalb beim Gehen auch nicht mehr ins Hohlkreuz. Und den Kassen kann es schließlich nicht gleichgültig sein, ob der Versicherte aufgrund eines schlechten Schaftes eine Lordose entwickelt oder durch ständig schiefes Sitzen eine Skoliose bekommt. Die Behandlung solcher Folgeschäden wird allemal mehr kosten als jeder optimal angepasste Schaft. Mit wie vielen Testschäften man bei M.A.S. zum adäquaten Ergebnis kommt, ist allerdings – wie bei der Einführung jeder neuen Technologie – noch gründlich zu klären. Mit Sicherheit wird sich der M.A.S. Schaft nicht zur Versorgung aller Oberschenkelamputierten eignen. Ich selbst habe damit trotz einer eingezogenen Narbe am Stumpfende keine Probleme und sehe nur Vorteile gegenüber vorherigen Versorgungen mit quer- und längsovalen Schäften. Auch Stümpfe mit üppigerem Weichteilposter als ich es aufzuweisen habe, sollen mit dem M.A.S. gut zu versorgen sein. Letzten Endes ist aber auch dieses neue Schaftprinzip kein Dogma, sondern ein Schritt in die richtige Richtung, dem weitere folgen müssen. Einstweilen kam mir jedenfalls die „Erleuchtung“, als ich neulich wieder einmal in meinen alten Schaft stieg. Ich hatte den Eindruck, in einem tiefen Krater zu versinken und entschied, das Ding nun endgültig auszumustern. Informationen: Gottinger Orthopädie-Technik GmbH, Ilchinger Weg 1, 85604 Zorneding, Tel.: 0800/4688464, Fax: 08106/366322, E-Mail: mail@gottinger.de, Internet: www.gottinger.de. Seminare mit Marlo Ortiz bei Ortho-Reha Neuhof Die Ortho-Reha Neuhof GmbH aus Nürnberg fördert und unterstützt als international operierendes Handelsunternehmen für Produkte der Orthopädie- und Rehatechnik die Verbreitung von neuen Technologien. Aus diesem Grunde veranstalteten Johanna und Wolfgang Neuhof im Oktober bereits zum zweiten Mal ein Seminar über das M.A.S. Schaftdesign, zu dem sie Marlo Ortiz nach Nürnberg einluden. 60 Orthopädie-Techniker und andere Experten folgten dem Vortrag und den Patientendemonstrationen von Ortiz und waren begeistert. „Wir fanden das Seminar super und hoffen, dass sich dieses Schaftsystem in Deutschland weiter etablieren wird“, resümierten zwei Teilnehmer. Den Seminaren ist es mit zu verdanken, dass es in Deutschland inzwischen schon einige Orthopädie-Techniker gibt, die sich an Prothesenschäften nach dem Marlo-Prinzip erfolgreich versuchen. Weil der Informationsbedarf jedoch noch lange nicht gestillt ist und die Zahl der Anmeldungen die verfügbaren Teilnehmerplätze bislang überstieg, plant die Ortho-Reha Neuhof GmbH so bald wie möglich weitere Seminare mit Marlo Ortiz. Informationen und aktuelle Termine finden sich rechtzeitig im Internet unter www.ortho-reha-neuhof.de

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