Als Oberschenkel-Amputierter: Radfahren mit dem PEDELEC

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Fontane
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Als Oberschenkel-Amputierter: Radfahren mit dem PEDELEC

Beitrag von Fontane » Fr Jul 16, 2010 12:11

Gesetzt den Fall, ein oberschenkelamputierter Radfahrer fasst erneuten Mut und entschliesst sich, wieder Rad zu fahren. Und nehmen wir weiter an, es handele sich bei dem behinderten Zweiradfreund um meine Wenigkeit. Wenn man sich dann vorher schlau macht – üblicherweise im Internet – findet sich dort erstaunlicherweise so gut wie gar nichts zum Thema. Das muss - gemessen an den vollmundigen Verlautbahrungen von Prothesenherstellern - verwundern. Sie alle tun nämlich so, als sei nichts weiter dabei und jeder Absicht könne die Verwirklichung auf dem Fusse folgen. Dass das ganz und gar nicht so ist, will ich am eigenen Beispiel darlegen und auch deutlich machen, dass andere Behinderungen hinzukommen können, die es dann neben der Amputation zu beachten gilt.

Ich bin inzwischen 70 Jahre alt. Vor vielen Jahren habe ich im Abstand von 1 Jahr zwei Herzinfarkte erlitten. Darum musste ich meinen Beruf als Allgemeinarzt vorzeitig an den Nagel hängen und in Rente gehen. Die von meinen Vätern ererbte Atherosklerose manifestierte sich aber nicht nur am Herzen sondern auch an den Arterien beider Beine. Vor 5 Jahren kam es im Bereich der rechten Arteria poplitea zu einer Aneurysmenbildung, die zu einer kompletten Blockade des Blutstroms führte. Vermittels eines riesengrossen Kunststoff-Bypasses konnte der Unterschenkel noch eineinhalb Jahre lang mit Blut versorgt werden – dann musste amputiert werden.

Eine einzige Unterschenkelamputation konnte die Probleme jedoch nicht lösen und in mehreren Operationen musste man die Beinlänge bis zum heutigen Ausmass reduzieren (30cm Oberschenkel). Schon während der Rehabilitation mit Gehschule habe ich angefangen, die Möglichkeiten des Radfahrens für mich zu erkunden. Damals trug ich einen längsovalen Schaft (+ C-Leg / graue Farbe), der im Schritt derartig geformt war, dass er mit dem Fahrradsattel in einer Weise kollidierte, die normales Fahren unmöglich machte. Üben auf dem Standfahrrad kam dehalb für mich auch zunächst nicht infrage und ich habe die Reha-Pedale statt mit den Füssen oft mit meinen beiden Händen gedreht.

Von diesem einen gravierenden Hindernis (Schaft) abgesehen hatte ich aber generelle Bedenken noch aus einem anderen Grunde. Mein subjektives Befinden samt objektiven Befunden + Lebensalter signalisierten eine nur noch eingeschränkte Leistungsfähigkeit, die es fraglich erscheinen liess, ob mir das normale Radfahren kräftemässig überhaupt noch möglich sein würde. Sicher war auch, dass ich das von mir benutzte 28er Holland-Herrenrad nicht mehr würde besteigen können (wg. Querstange). Etwa um diese Zeit traten zum ersten mal die sogenannten PEDELECS in meinen Bewusstseinsfocus. Mit einem solchen Gerät schien es zumindest theoretisch möglich, fehlende eigene Kräfte mit dem Antrieb eines solchen Fahrzeugs zu kompensieren.

Aus ganz anderen Gründen als denen des Radfahrens hatte man mir inzwischen zum Umstieg auf einen MAS-Schaft geraten, der Vorteile hinsichtlich des Tragekomforts versprach und wie sich herausstellte auch die erforderlichen Bewegungsabläufe am seitlichen Fahrradsattel eher ermöglichte. Ich habe dann bei passender Gelegenheit und für einen günstigen Preis ein PEDELEC der Firma Prophete erworben, womit zwei Hauptprobleme auf einen Schlag beseitigt waren. Nämlich: der Ersatz eines ungeeigneten Rades (Hollandrad) durch ein PEDELEC und die Möglichkeit, mich beim Radfahren durch einen Elektromotor unterstützen zu lassen.

Das Elektrorad selbst ist als Damenfahrrad ausgelegt. Der kräftige Nabenmotor bildet die Vorderachse. Unter dem Sattel findet der schwere Lithiumionen-Akku Platz. Die Rahmenkonstruktion ist sehr robust ausgelegt und das ganze Rad wiegt daher deutlich mehr als ein normales Rad. Breite, tragfähige Reifen tragen einerseits zur Sicherheit bei erfordern aber andererseits wegen ihrer erhöhten Reibung zusätzliche Kräfte.

Der Gesetzgeber hat einige Konstruktionsmerkmale für diese Art Zweirad festgelegt. Danach darf die Unterstützung durch den Eelektromotor nur dann einsetzen, wenn gleichzeitig die Pedale bewegt werden. Sobald sie das einmal nicht tun, schaltet der Motor ab. Für einen Behinderten kann das bedeuten: Anfahren aus dem Stillstand ist nicht immer möglich. Unmöglich kann das beispielsweise vor einer Ampel sein, wenn es bergauf geht und das Prothesenbein in Antrittsposition steht. Dann wäre eine Anfahrhile hilfreich, die tatsächlich auch einige Hersteller im Hochkostenbereich anbieten. Allerdings darf die damit erreichte Geschwindigkeit 6Km/h nicht überschreiten. Sie wird durch Drehen am rechten Handgriff aktiviert beinahe so, wie man das von einem motorisierten Zweirad her gewohnt ist.

Da es nur eine Frage der Zeit gewesen wäre, bis ich in solche Schwierigkeiten geraten wäre, habe ich mir eine eigene Anfahrhilfe gebaut. Man benötigt dazu lediglich eine einfache Blinkerschaltung, die eine Pedalbewegung simuliert und an richtiger Stelle eingebaut, das Anfahren durch Drehen des rechten Handgriffs ermöglicht. Der Fahrstrom kann dabei so dosiert werden, das unterschiedliche Geschwindigkeiten erreicht werden. Wer aber nicht über ausreichende Sachkenntniss verfügt, sollte einen Elektriker zu Rate ziehen. Dringend zu beachten sind aber die gesetzlichen Vorschriften. Umbauten müssen vom TÜV abgenommen werden und für das Fahrzeug muss eine Versicherungsplakette erworben werden, weil es jetzt kein Fahrrad mehr ist sondern eine Elektro-Mofa.

Ich kann nun also wie ich will entweder kräftig oder auch gar nicht in die Pedale treten und komme beide male gut voran. Ich kompensiere also mit dem Gasgriff meine Herzschwäche und meine Behinderung durch das fehlende Bein. Gelegentlich aber auch meine Tretfaulheit - wenn sie denn einmal auftritt. Damit haben wir aber noch längst nicht alle Probleme angesprochen. Da die Sattelhöhe so eingestellt werden muss, dass beim Anhalten die Fussspitze Bodenkontakt hat, entfällt die optimale Positionierung des Beins beim Tretvorgang und die Extremität bleibt unterhalb ihres Leistungsvermögens. Mit Rücksicht auf die Verkehrssicherheit muss man das in Kauf nehmen.

In einem Werbefilm für eine C-Leg-Prothese sieht man, wie ein Radfahrer seinen Prothesenfuss einfach so, das heisst ungesichert = unbefestigt, auf die Pedale stellt. Würde der Film über mehr Zeit als diese paar Sekunden gehen, würde man möglicherweise sehen können, wie der Radfahrer von der Pedale rutscht, plötzlichen Bodenkontakt hat und jämmerlich hinstürzt. Ausserhalb der gezeigten Werbewirklichkeit stört nämlich der Innenrand des Prothesenschaftes das Auf und Ab der Prothese so sehr, dass ein Behinderter bemüht ist, das Problem durch Abspreizen des Oberschenkels zu entschärfen. Das führt jedoch automatisch zu einer Aussenrotation des Fusses, die wiederum zu einem unerwünschten Kontakt der Ferse mit dem sich regelmässig drehenden Pedalarm führt.

Was tun? Man kann ein Verlängerungsstück zwischen Pedale und Pedalarm einsetzen und damit den unerwünschten Kontakt verhindern. Man kann aber auch, wie ich es getan habe, soviel seitliches Sattel-Material entfernen, dass sich das Problem sehr stark verkleinert, weil eine Aussenrotation unnötig geworden ist. Ein textiler Sattelüberzug verdeckt anschliessend die entstandenen Lücken.

Damit steht aber der Prothesenfuss immer noch nicht sicher auf der Pedale. Zur Lösung des Problems bieten sich mehrere Lösungen an. Eine Halterung muss meinen Ansprüchen nur insofern genügen, als ich den Fuss nach einem Sturz problemlos entfernen können will. Ein beim Sturz losgelöster Prothesenfuss wird nur selten in der Lage sein im Moment des Sturzes Schlimmeres zu verhüten. Meine Lösung besteht aus einer Pedale, die ich von meinem Heimtrainer abmontiert habe.

Diese Pedale verfügt über ein breites Lederband, das den Fuss sichert. Ein fest eingearbeitetes Gewicht unterhalb der Pedale bringt diese automatisch immer so in Position, dass ich den Fuss unter dem Riemen durchschieben kann. Wenn jemand nicht über eine solche Pedale verfügt, kann er für wenig Geld eine solche erwerben, die über einen Bügel oder einem Korb verfügt, unter die man die Fussspitze schieben kann.

Unter den Bedingungen, wie ich sie hier berichte, stiess das C-Leg (grau), das ich damals trug, an seine Grenzen insofern als seine Beugung konstruktionsbedingt nicht in dem erforderlichen Masse möglich war. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma bestand darin, eine sogenannte Versehrtenkurbel zu montieren, die das Ausmass des Prothesenhubs so reduzierte, dass ich mein C-Leg (grau) zum Radfahren verwenden konnte. Ob der Hersteller von diesem Problem weiss und was er in diesem Zusammenhang empfiehlt, weiss ich nicht. Die Versehrtenkurbel habe ich seinerzeit über den Handel (Internet) bezogen und mit Hilfe eines Schlossermeisters montiert.

Wenn ich also zum Fahrradfahren schreite, spielt sich das wie folgt ab: meine Frau bringt das Rad aus dem Schuppen und setzt den Akku ein. Ich schiebe das Rad vom Ständer und bringe meine Prothese über die unteren Rahmenanteile auf die andere Seite. Dann setze ich meinen Schutzhelm auf, verstaue das Telefon und setze mich auf den Sattel. Bei entsperrtem Kniegelenk schiebe ich die Fussspitze unter dem Lederriemen der rechten Pedale durch, die bereits in Antritt-Position gebracht wurde. Nach dem Abschied von der Frau drehe ich am Gas und fahre nun. Nach wenigen Metern trete ich auch in die Pedale. Der Ausflug hat begonnen.

Übrigens: meine Krankenkasse (ALLIANZ) hat auf Antrag die Hälfte des Kaufpreises vom PEDELEC übernommen obwohl das Fahrzeug im Hilfsmittelkatalog nicht gelistet ist. Möglicherweise war es hilfreich, zu erwähnen, dass andere (vierrädrige) Fortbewegungsmittel um ein Vielfaches teurer sind.

FONTANE

Markus_c3po
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Re: Als Oberschenkel-Amputierter: Radfahren mit dem PEDELEC

Beitrag von Markus_c3po » Mo Sep 27, 2010 15:47

Hallo Fontane,

ich finde das schön, wie du das aufgeschrieben hast und ziehe meinen Hut, wie du das hin gekriegt hast.

Ich bin "etwas" jünger als du und vermutlich etwas fitter. Trotzdem fahre ich auch ein "e-bike", mit dem ich inzwischen auch eine kleine Alpenüberquerung (http://www.beinamputierte.info/index.ph ... ileContent) gemacht habe. Wobei ich das e-... mehr zur Überwindung größerer Steigunen nehme....

Mit dem C-Leg kann man problemlos und ohne vom Pedal zu fallen radeln, sofern das als "2. Modus" eingestellt ist. Dabei schwingt das Knie frei und bei entsprechender Sattelhöhe reicht der Beugewinkel des Knies auch für normale Kurbellängen.
Ein Freilauf (keine Rücktrittbremse) wäre hier dringend zu empfehlen um zum Anfahren das Pedal entsprechend und einfach zu positionieren. Pedalriemen, Klick- oder Magnetpedale sind das Optimum. Idealer weise kombiniert mit einer pedalachsverlängerung.

Was den Schaft betrifft, sollte es mit einem Längsovalen System keine Probleme geben. Blöd ist bei allen OS-Prothesen das Auf-und Absteigen, da man nicht auf die Prothesenseitige Pobacke rutschen kann. Also muss der Sattel (unnötig) tief gestellt werden. Eine um ca. 10 cm vestellbare Sattelstütze ( Kind Shock - KSP-850 ) bringt eine riesen Erleichterung und ist für verhältnismäßig wenig Geld zu bekommen. Ein kleiner Hebel unter der Sattelstütze erlaubt ein Anheben der Sattelopsition nach dem Anfahren und Absenken vom Anhalten.

Für die Pedlec-Freunde, die nicht mit eigener Muskelkraft anfahren können oder wollen, gibt es Lösungen mit einer "Schiebehilfe". Dabei fährt das Rad (im gesetzlichen Rahmen) ohne zu treten aber nur bis 6 km/h.

Ich wünsche dir Fontane und allen Neueinsteigern einen schönen Radel-Herbst.

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